Navigieren in Komplexität

Das Wort «komplex» hat Hochkonjunktur. Alles, was nicht komplex ist, scheint, nicht spannend zu sein. Und tatsächlich, wir mögen Komplexität auch. Denn sie ist das Feld von Abenteurer*innen und Forschungs-Reisenden.

Doch zum Glück, treffen wir im Alltag auch auf viele einfache und «bloss» komplizierte Situationen. Und die Corona-Krise verschaffte uns ordnungs- und sicherheitsliebenden Schweizer*innen sogar eine Prise «Chaos». 

Aber nun Schritt für Schritt. In diesem Blog-Beitrag klären wir den Unterschied zwischen kompliziert und komplex. Und wir gehen der Frage nach, warum Expertenwissen in komplexen Fragen nicht weiterhilft.

Man nehme Systemtheorie, Neurowissenschaft und Antropologie.

Dazu stützen wir uns auf Dave Snowden. Er ist ein walisischer Wissenschafter, der in den Feldern Systemtheorie, Entscheidungsfindung, Organisationsentwicklung, Antropologie und Neurowissenschaft forscht und arbeitet.

Dave Snowden hat das Cynefin Framework entwickelt. Es klassifiziert Systeme und Situationen entsprechend ihrem Komplexitätsgrad und gibt Anhaltspunkte, mit welcher Strategie das System oder die Situation beeinflusst werden kann. Damit ist es eine schnelle Entscheidungshilfe in Situationen, in denen wir Entscheidungen treffen müssen. Und bekanntlich tun wir das – wenn auch meistens unbewusst – ca. 100’000 mal am Tag.

Gleichzeitig macht es deutlich, dass unsere Sicht- und Denkweise in hohem Mass beeinflusst, wie wir die Welt erleben, wahrnehmen und in ihr agieren.

Das Cynefin-Framework

#1 – klar oder offensichtlich

In diesem Bereich ist es klar, was zu tun ist. Der Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung ist für jedermann ersichtlich. 

Die Strategie, um zu einer Entscheidung bzw. Lösung zu kommen lautet: 

  1. Wahrnehmen (> das Problem erkennen)
  2. Einordnen (> worum geht es?)
  3. Reagieren (> handeln bzw. entscheiden)

Ein Beispiel (von Dave Snowden):

Aus welchen Gründen auch immer fährt man in Grossbritannien auf der linken Fahrbahn und im übrigen Europa auf der rechten Fahrbahn. 
Sitzt du also in einem Auto und musst entscheiden, wo du fährst (1), klärst du, in welchem Land du dich befindest (2) und fährst entsprechend links (falls du in Grossbritannien bist) bzw. rechts (wenn du anderswo in Europa bist) (3). 

#2 – kompliziert

In diesem Bereich gibt es einen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung. Er ist allerdings nicht für alle offensichtlich. Hier braucht es Expertenwissen. 

Expert*innen analysieren oder untersuchen die Situation, um den Ursache-Wirkungs-Zusammenhang und entsprechende Lösungen zu ermitteln. 

Die Strategie, um zu einer Entscheidung bzw. Lösung zu kommen ist daher: 

  1. Wahrnehmen (> das Problem erkennen)
  2. Analysieren 
  3. Reagieren (> handeln bzw. entscheiden)

Ein Beispiel:

Bei meinem Fahrzeug funktioniert der Rückwärtsgang nicht mehr (1). Ich bringe es in die Werkstatt und eine Fachperson schaut sich das Fahrzeug an und untersucht es (2). Sie findet den Fehler bzw. Defekt und behebt ihn (3).

#3 – komplex

In diesem Bereich gibt es keinen linearen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang. Ich kann nicht wissen, was eine gute Lösung ist, bis ich handle. Und jede Intervention verändert wieder die Situation.

Die Strategie, um zu einer Entscheidung bzw. Lösung zu kommen ist daher: 

  1. Erproben bzw. erkunden (> safe-to-fail experiments)
  2. Wahrnehmen (> erkennen, wie sich unser Experiment auswirkt)
  3. Reagieren (> Experimente weiter entwickeln)

Ein Beispiel:

In unserem Unternehmen müssen wir Wege finden, um mit dem Rückgang der Aufträge umzugehen, den die Corona-Krise uns beschert hat. Wir wissen nicht, welches es eine gute Lösung ist, aber wir können verschiedene Safe-to-Fail-Experimente – parallel – erproben und uns so an einen machbaren Weg herantasten (z.B. neue Angebote/Produkte lancieren, Öffnungszeiten reduzieren, Unterstützungsgelder beantragen, …)

Achtung: 

Wenn wir in der komplexen Domäne so handeln, als wäre die Situation kompliziert und wir Expert*innen heranziehen, um Lösungen zu entwickeln, gefährden wir das Vertrauen in Expertisen. Denn auch Expert*innen können in komplexen Situationen nicht wissen, welches eine gute Lösung ist. 

#4 – chaotisch

In diesem Bereich gibt es keinen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang und keine Grenzen des Problems. 

Die Strategie, um zu einer Entscheidung bzw. Lösung zu kommen ist daher: 

  1. Handeln 
  2. Wahrnehmen
  3. Reagieren

Ein Beispiel:

Eine Umweltkatastrophe trifft meine Umgebung. Ich bringe zunächst mich selber in Sicherheit (1). Danach schaue ich, was ich als nächstes zur Linderung der Situation tun kann (2). Entsprechend setze ich meinen nächsten Handlungsschritt fest (3).

#5 – diffus oder unklar

Im Alltag finden wir uns oft in einer Situation wieder, in der es diffus bzw. noch nicht klar ist, in welchem dieser vier Bereiche wir uns befinden. Von hier aus sind wir – entsprechend unserer Prägung – versucht, in das uns vertrauteste Feld zu wechseln bzw. so zu handeln, als befände sich die vorliegende Situation in diesem Feld.

In unserer von Wissenschaft und Ursache-Wirkungs-Analyse geprägten Gesellschaft, tendieren viele von uns dazu, Expert*innen heranzuziehen und mit einem Expertenbericht zu beauftragen, um das Problem zu analysieren und Lösungen vorzuschlagen. Das macht allerdings nur dann Sinn, wenn die Situation kompliziert und nicht komplex, chaotisch oder klar bzw. offensichtlich ist.

In diesem Video erklärt Dave Snowden das Cynefin Framework. Es ist schon 10 Jahre alt. Eine aktualisierte Version des Videos findet sich hier.