Wenn wir in bzw. mit Gruppen, die sich erst bilden, zusammenarbeiten, um auf eine komplexe Herausforderung zu antworten, haben sich in unserer Erfahrung ein paar Ankerpunkte als besonders nützlich herauskristallisiert. Sie können zur Anwendung kommen für die Gestaltung von Meetings und Prozessen sowohl innerhalb von Organisationen als auch in einem offeneren Kontext wie z.B. bei der Gründung von Zivilgesellschaftlichen Bewegungen.
Die Ankerpunkte können bei der Planung nächster Schritte hilfreich sein aber auch beim Verstehen-Lernen eines laufenden Prozesses.
Alle Ankerpunkte bedingen sich gegenseitig. Dennoch lohnt es sich meist, mit dem Ankerpunkt “Bedürfnis” zu starten. Jeder der Ankerpunkte wird durch eine Reihe von Fragen aktiviert bzw. charakterisiert. Sie helfen uns dabei, den Ankerpunkt zu finden, dort zu verweilen, um dann zum nächsten aufzubrechen.
Reinhard K. Sprenger
Das Bedürfnis ist der Grund, überhaupt etwas zu tun. Um sinnvoll ein Meeting, eine Organisationsstruktur oder eine zivilgesellschaftliche Initiative zu lancieren, erforschen wir zunächst das Bedürfnis. Unsere Arbeit, die wir dann tun, dient diesem Bedürfnis bzw. versucht, es zu befriedigen.
(Jene, die mit Soziokratie 3.0 vertraut sind, können sich hier an den Begriffen Spannung und Treiber anlehnen, wobei der Treiber auch schon den Sinn & Zweck beinhaltet.)
Um das Bedürfnis zu klären, können wir uns beispielsweise folgende Fragen stellen. Passe sie je nach Kontext an:
Aus dem Bedürfnis ergibt sich der Sinn & Zweck. Die Formulierung eines Purpose soll klar und dringlich sein. Dann gibt sie uns Orientierung im Tun.
Diese Fragen helfen beim Formulieren eines Purpose:
Prinzipien der Zusammenarbeit bringen auf den Punkt und machen explizit, wie wir zusammenarbeiten wollen. Um Wirkung zu entfalten sollten sie einfach sein, von allen mitgetragen sein und gut verstanden sein. Es geht nicht um wohlklingende Statements, die irgendwo auf der Website stehen. Die Prinzipien sollen so knackig sein, dass sie uns in unserer täglichen Arbeit immer wieder daran erinnern, wie wir eigentlich zusammen arbeiten wollen. Auch dann, wenn ein rauher Wind bläst. Letztlich helfen uns Prinzipien dabei, langfristig gute Arbeitsbeziehungen zu gestalten. Denn diese bilden die Grundlage, dass wir unsere Arbeit gut ausüben können.
Diese Fragen unterstützen beim Formulieren von Prinzipien
Wenn klar ist, aus welchem Bedürfnis heraus wird handeln, zu welchem Sinn & Zweck und mit welchen Zusammenarbeitsprinzipien, dann ist es Zeit, den Blick über das “bisherige” Team hinaus zu heben. Wir können damit beginnen, zusätzliche Menschen zu involvieren und an einem Netzwerk zu knüpfen. Mit einer Stakeholdermap finden wir heraus, wer Interesse hat bzw. haben könnte an unserem Vorhaben, wer uns unterstützen bzw. im Weg stehen könnte.
Folgende Fragen sind hilfreich:
Unserer Erfahrung nach, braucht es immer mehr Engagement als erwartet, die Menschen zu aktivieren. Hilfreich ist z.B. persönlich ansprechen, mit Multiplikator:innen arbeiten, niederschwellige Anlässe zum Reinschnuppern organisieren.
Je länger die Zusammenarbeit fortschreitet und je klarer wird, warum wir handeln, wozu wir handeln, mit und für wen wir handeln und wie wir zusammenarbeiten, desto eher kommt der Ruf nach Strukturen. Strukturen entscheiden über den Umgang mit Ressourcen der Gruppe: Zeit, Geld, Energie, Commitment und Aufmerksamkeit. Wir ermuntern dazu, Strukturen nicht zu früh zu schaffen, sondern diese nach und nach zu bauen.
Folgende Fragen helfen dabei, Strukturen sorgfältig und passend zum Sinn & Zweck zu wählen:
Sociocracy 3.0 bietet ein umfassendes Baukastensystem, um Strukturen zu bauen. Sie passen für das Kreisparadigma, also wenn man kompetenzbasierte Heterarchie abbilden möchte.
Unsere täglichen Praktiken innerhalb der gewählten Struktur sind entscheidend. Wie treffen wir Entscheidungen? Wir erledigen wir Arbeit? Wie kommunizieren wir miteinander? Hier befinden wir uns in der operativen Welt: E-Mails, Check-Listen, Meetings. Wir laden dazu ein, diese Praktiken nicht auf der Basis bekannter Muster zu wählen – ähnlich wie bei den Strukturen -, sondern Praktiken zu entwickeln und zu pflegen, welche unsere tägliche Arbeit in Einklang bringt mit unserem Purpose, unseren Prinzipien und unseren Strukturen.
… für Meetings: Timeboxing, in Runden sprechen, Meetings vorbereiten, Meetinghost, …
… um Arbeit zu organisieren und zu koordinieren: Kanban-Boards, Arbeitssprints, Rollen definieren und Rollenwahl
… für Entscheidungen: Konsent, Beratungsprozess, …
Wenn wir keine Ernte erzielen wollen, macht Arbeit wenig Sinn. Mit Ernte meinen wir sowohl messbare Ergebnisse (z.B. 3 Projekte umgesetzt, 100 Menschen als Mitglieder gewonnen, …) als auch nicht messbare Wirkungen (z.B. gewachsenes Vertrauen, Zusammenhalt im Quartier, …), also die Früchte unserer Arbeit. Zur Ernte gehört aber auch, sie sichtbar und verfügbar zu machen, dass sie die gewünschte Wirkung erzielen kann. Das kann bedeuten, den Sinn der Arbeit zu benennen, Geschichten zu erzählen über unsere Arbeit und andere damit zu inspirieren und die Ergebnisse der Arbeit öffentlich zu machen.
Diese Fragen helfen uns dabei, die verschiedenen Aspekte der Ernte herauszuschälen:
Der achte Aspekt bildet den roten Faden.
Er liegt uns besonders am Herzen, denn er beschreibt, dass die Ankerpunkte immer nur temporär sind. Weil wir in einer komplexen Welt navigieren, sollten wir die Ankerpunkte immer wieder überprüfen und allenfalls aktualisieren und weiter entwickeln.
Das bedeutet auch, dass wir nicht nach Perfektion streben, sondern nach einem guten nächsten Schritt, einer nächsten Ebene von Klarheit. Dabei bewegen wir uns zwischen Ordnung (Struktur, Klarheit, Fixierung) und Chaos (Kreativität, Unordnung, lose Fäden). Die Kunst liegt darin, weder in der Ordnung zu erstarren noch im Chaos unterzugehen. Wenn uns das – mal mehr, mal weniger – gelingt, wandeln wir auf dem chaordischen Pfad.
Wenn wir mit einer Gruppe starten, halten wir uns zunächst an die Ankerpunkte 1 – Bedürfnis, 2 – Purpose und 7 – Ernte. Wir wollen also wissen, warum wir handeln, wozu wir handeln und welche Wirkung wir erzielen wollen. Danach folgen die Ankerpunkte 3 – Prinzipien der Zusammenarbeit, 4 – Menschen und 6 – Praktiken. Die Frage der Struktur (5) stellt sich unserer Erfahrung nach zwar früh. Meist braucht es aber erst im Verlaufe der Arbeit wirklich Antworten. Da haben wir die Haltung, immer nur soviel Struktur zu bauen, wie für eine effiziente Zusammenarbeit gerade nötig.
Wie bereits erwähnt, wird es nötig sein, immer wieder zu justieren. Selbstverständlich wird es keinen Sinn machen, jede Woche einen neuen Purpose zu formulieren, aber es lohnt sich, ihn regelmässig auf Aktualität zu prüfen. Dasselbe gilt für alle anderen Punkte auch. Denn zieht man am einen Ankerpunkt, wirkt sich das auf die anderen aus. So bleibt es lebendig.